Von Herzrevolutionären und Verstandesbürgern

1. Die Süddeutsche Zeitung zitiert den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, mit der alten Kamelle, dass, wer mit 30 kein Revolutionär sei, wohl kein Herz, wer mit 40 hingegen immer noch Revolutionär sei, wohl keinen Verstand habe. Wie die meisten Ausdünstungen des unheilbar gesunden Menschenverstands steckt auch in diesem ein Kern Wahrheit, der durch seine kritische Herausarbeitung Einsicht in die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse geben könnte; dieser wird allerdings ertränkt in reiner Affirmation.

Richtig wäre allein die kritische, d.h. negative Auslegung des Spruchs. Wo er, bzw. seine gutbürgerlichen Wiederkäuer, den (mehr oder weniger) jugendlichen Revolutionär – wenn auch kopftätschelnd-paternalistisch – dafür loben, dass er angesichts der harten Realität noch nicht das Herz verloren habe – dem in der Gegenüberstellung zum Verstand eben die Realitätstauglichkeit abgesprochen wird – wäre kritisch zu konstatieren, dass die meisten derer, die in jugendlichem Überschwang revolutionäre Parolen von sich geben oder gar sich einer sich revolutionär nennenden Organisation anschließen, dies tatsächlich lediglich aus „Herzgründen“ tun, d.h. aus einer begrifflos-emotionalen Bestürzung über den Zustand der Welt; wo doch erst deren vernunftbasierte Weiterentwicklung und damit Überwindung die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer grundlegenden Verkehrtheit erfassen und damit die Grundlage für tatsächliche revolutionäre Praxis liefern könnte. Der jugendliche Herzrevolutionär hingegen wird sich mit vollem emotionalen Engagement, jedoch ohne kritische Einsicht in die undurchdacht-revolutionäre Praxis stürzen und dabei im besten Falle wirkungslos, in den meisten eher kontraproduktiv vor sich hin werkeln, bis ihm im Laufe der Zeit der jugendliche Elan ausgeht und er sich der Lethargie hingibt, die heutzutage affirmativ als verständiges Sich-Abfinden mit der gesellschaftlichen Realität firmiert.

Das nämlich ist der tatsächliche Gehalt des zweiten Teils des Spruchs: wer „Verstand“ besitzt, gibt jede Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft spätestens mit 40 auf; das einzige, was es zu machen gibt, ist an der reformistischen Ehrenrettung der kapitalistischen Katastrophe herumzufrickeln und sich ansonsten um das eigene Vorankommen unter Ausblendung ebendieser Katastrophe zu kümmern. Von einer gesellschaftlichen Vernunft, die im Gegensatz zum Verstand Gegebenes nicht mit Notwendigem verwechselt und noch in der Lage ist, das ganz Andere zu denken, will das Bürgertum schon lange nichts mehr wissen (s. 3.). Hier treffen sich der jugendliche Herzrevolutionär und der gealterte apathische Spießbürger: in der Unfähigkeit und dem Unwillen, die Verhältnisse anders als emotional zu erfassen, in der Vorstellung von ihrer absoluten Übermacht und Undurchdringlichkeit, gegen die man in der Jugend noch blind anwüten mag, die man im „weisen“ Alter allerdings nur noch resignativ hinzunehmen bereit ist.

2. Winfried Kretschmann ist – entgegen der eigentlichen Intention der SZ – das perfekte Beispiel für ebendiese kritische Lesart seines Spruchs. Dieser war schließlich in seiner Jugend Mitglied des Kommunistischen Bunds Westdeutschland, mithin Maoist, also Prototyp des Revolutionärs mit Herz aber ohne Verstand und vertritt jetzt als Ministerpräsident den ökolibertären Flügel der Grünen, mithin den angepasstesten und konformistischsten Flügel einer Partei, die ihrerseits aus diversen herzrevolutionären Gruppen in Deutschland hervorgegangen ist und jetzt die Avantgarde der progressiven Kapitalismusverteidiger gibt. Seinen exemplarischen Werdegang hat Kretschmann sogar in Rekordzeit hingelegt – anstelle mit 30 wurde er schon mit 25 zum Revolutionär, stieg nach zwei Jahren allerdings schon wieder aus und begründete bereits mit 31 Jahren die Grünen mit; schon mit Mitte 30 hatte er sein Herz offenbar vollkommen gegen seinen Verstand ausgetauscht, indem er gegen die noch im Herzrevolutionären steckengebliebenen Ökosozialisten bei den Grünen antrat – eine erstaunlich schnelle Wandlung. Weniger erstaunlich ist allerdings der Umstand, dass jemand, der in der Rechtfertigung der maoistischen Greueltaten geübt ist, bestens geeignet ist für die angeblich progressive Umgestaltung des Kapitalismus hin zu einem grünen, „wertebasierten“ Wirtschaftssystems.

3. Das mag erklären, weshalb die SZ ausgerechnet Kretschmann – der zwar eine ausgezeichnetet Charaktermaske des modernen Kapitalismus abgeben mag, ansonsten aber doch eher nicht im Ruf steht, ein großer Denker zu sein – mit diesem Spruch zitiert, wo er doch auch schon solch illustren Persönlichkeiten wie Winston Churchill oder Victor Hugo zugeschrieben wurde. Gräbt man ein wenig tiefer in der Geschichte des Spruchs, stößt man auf eine Version, die denjenigen bürgerlichen Geistesgrößen, die ihn so gerne im Munde führen, durchaus zu denken geben sollte: “He who is not a républicain at twenty compels one to doubt the generosity of his heart; but he who, after thirty, persists, compels one to doubt the soundness of his mind”, so zitiert der französische Jurist und Akademiker Anselme Batbie den großen englischen Staatsphilosophen Edmund Burke. Hier spricht der konservative Verteidiger eines gemäßigten Konstitutionalismus gegen den revolutionären Sturm und Drang der frühen liberalen Demokraten. Es erinnert daran, dass auch der Liberalismus einst die revolutionäre Philosophie einer revolutionären Klasse war, die gegen die als natur- oder gottgegeben verklärten Verhältnisse des Feudalismus und Absolutismus die Vernunftutopie der bürgerlichen Weltgesellschaft durchzusetzen trachtete. Alas, das Bürgertum wurde im Moment seiner Machtergreifung reaktionär, und was sich heute noch als der klägliche Rest des politischen Liberalismus geriert, ist nun seinerseits bemüht, die herrschenden Verhältnisse als naturgegeben darzustellen, als einzig der menschlichen Natur angemessene – womit sich sich die Ontogenese jedes kleinen ehemals herzrevolutionären Verstandbürgers in der Phylogenese seiner Klasse spiegelt.

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